SZ: In fremden Händen – stark gekürzt Ursula K/Koch

In Deutschland gibt es rund 600 Jugendämter. Sie sind kommunale Behörden und sollen sicherstellen, dass Kinder geborgen und gesund aufwachsen. Sie planen Spielplätze, sie beraten Jugendliche, die sich beim Einstieg ins Berufsleben schwertun, sie unterstützen Eltern bei der Erziehung. Das Jugendamt soll aber nicht nur helfen, sondern auch kontrollieren, dass Kinder in ihren Familien nicht vernachlässigt oder misshandelt werden. Andernfalls kann es eine Inobhutnahme verfügen: Das Kind wird aus seiner Familie genommen und in einer Pflegefamilie oder einem Heim untergebracht. Die Zahl der Kinder, die Jugendämter aus ihren Familien nehmen, steigt: Vor zehn Jahren waren es rund 25 000 Kinder, vergangenes Jahr fast 50 000. In der Öffentlichkeit wird diese Entwicklung oft damit erklärt, dass Eltern mit ihrer Erziehungsaufgabe zunehmend überfordert seien. Es gibt aber Fälle, die eher den Verdacht nähren, dass ein Apparat außer Kontrolle geraten ist: dass Familien, die vielleicht Hilfe bräuchten, mit staatlicher Gewalt schikaniert und auseinandergerissen werden – mit wenig Rücksicht auf Gesetze und auf das Gut, das eigentlich über allem steht: das Kindeswohl.

Thomas Mörsberger — Vorsitzender des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht: Ich werde zunehmend konfrontiert mit Fällen, bei denen in haarsträubender Weise Familien belastet werden durch völlig unberechtigte Interventionen, etwa in Form einer Fremdplatzierung per Inobhutnahme. Und ich spreche nur von Fällen, bei denen das Jugendamt dies auch – natürlich nicht öffentlich – zugegeben hat. Den Optimismus, dass durch massives Eingreifen per se das Gute passiere, kann ich nicht teilen.

Lore Peschel-Gutzeit — Familienrechtsanwältin, ehemalige Justizsenatorin in Hamburg und Berlin: Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt festgestellt, dass sowohl Familiengerichte als auch Jugendämter Kinder oft zu schnell und ohne notwendige Ermittlung von Alternativen in Obhut nehmen beziehungsweise von den Eltern trennen. Und dass sie sich auch bei der Rückgabe von fremd-untergebrachten Kindern an die Eltern zögerlich und damit pflicht- und verfassungswidrig verhalten.

Fall 1

 

Ursula K.*, Bremen — Mutter von Faruk*: Als ich schwanger wurde, war ich bereits seit einem Jahr mit Jusuf in einer On-off-Beziehung. Er hat mich oft bedroht und geschlagen, trotzdem hing ich an ihm – emotional und auch finanziell. Zwei Monate vor der Geburt habe ich beim Jugendamt darum gebeten, dass ich in ein Mutter-Kind-Haus gehen darf, um Abstand von ihm zu gewinnen. Ich hatte mich selbst um einen Platz in Hamburg gekümmert. Es fehlte noch eine Zusage, dass die Kosten vom Jugendamt übernommen werden. Stattdessen genehmigte man mir eine Familienhilfe und eine Hebamme. Wird schon, sagte man mir, Sie werden ja jetzt alle eine Familie. Später habe ich aus den Akten erfahren, dass das Jugendamt am nächsten Tag Kontakt zum Krankenhaus aufnahm, wohl um die Inobhutnahme zu planen.

Fall 2

 

Fall 3



Fall 4

Fall 5

Fall 6

Ursula K., Bremen — Mutter von Faruk (Fall 1): Mein Sohn Faruk wurde am 26. Mai 2012 um 1:35 Uhr geboren. Fünf Minuten später hat man ihn mir weggenommen. Ich erfuhr nichts, keine Größe, kein Gewicht, die Ärzte sagten nur, er müsse schnell auf die Kinderintensivstation. Als ich nachts um fünf zur Pforte lief, um nach ihm zu sehen, ließ man mich nicht rein. Am nächsten Morgen um elf Uhr kam ein Mann vom Jugendamt Vechta. Er eröffnete das Gespräch mit den Worten: Wir haben Ihr Kind in Obhut genommen. Ich fragte ihn: Warum? Er schüttelte nur den Kopf: Frau K., wie wollen Sie das Ruder nur wieder rumreißen? Ich war fassungslos, dass man mir mein Kind wegnimmt, bevor ich überhaupt als Mutter hätte versagen können. Vor Gericht habe ich später erfahren, dass das Jugendamt befürchtete, mein Freund würde dem Kind etwas antun.

Ursula K. — Mutter von Faruk (Fall 1): Am 4. Juni, meinem Geburtstag, war die Anhörung vor dem Amtsgericht Vechta. Ich war mir sicher, dass ich meinen Sohn so schnell wiederbekomme, wie man ihn mir weggenommen hatte. Ich war überzeugt, dass das alles ein Missverständnis ist und ich den Kleinen mit zu mir nehmen darf. Stattdessen hat mir das Familiengericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen.

Ursula K. — Mutter von Faruk (Fall 1): Als ich die Pflegeeltern zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich: Das kann ja wohl nicht wahr sein. Diese Frau, weit über sechzig, soll sich um mein Kind kümmern? Der Mann war sogar noch älter.

Ursula K. — Mutter von Faruk (Fall 1): Nach mehreren Wochen ordnete das Gericht an, dass Faruk wieder zu mir kommt. Etwa zur selben Zeit fand mein Lebens-gefährte Arbeit im Kosovo. Wir zogen um, und ich dachte, jetzt wird alles gut. Aber schon nach wenigen Tagen im Kosovo war klar, dass er mich angelogen hatte. Er hatte nie eine Stelle, sondern nur einen Weg gesucht, um mich wieder zu demütigen. Er ist einfach allein zurück nach Deutschland und hat Faruk und mich ohne Pass zurückgelassen. Erst zwei Monate später habe ich es mit Hilfe der Botschaft und einer guten Freundin geschafft zurückzureisen. Noch am selben Tag, an dem ich bei meiner Freundin ankam, hat das Jugendamt mit Polizeigewalt meinen Sohn ein zweites Mal in Obhut genommen.

Um 14 Uhr fuhren die Autos vor, zwei Mitarbeiter vom Jugendamt waren da, ich sah die Polizisten, die abgesperrte Straße, und wusste Bescheid. Die Beamten trugen geladene Pistolen, das muss man sich mal vorstellen. Ich habe Faruk auf meinem Arm festgehalten und bin hinter den Wäschetrockner gestiegen, um uns zu schützen. Ich wollte ihn nicht wieder verlieren. Die Polizei hat laut gedroht, mich zu Boden zu reißen, wenn ich Faruk nicht hergebe, auch wenn das Kind dabei zu Schaden käme. Da habe ich ihn abgegeben.

Ursula K. — Mutter von Faruk (Fall 1): Vor Gericht wurde mir das Sorgerecht für Faruk noch einmal entzogen. Zwei Jahre wieder nur Umgang zu vorgegebenen Zeiten, wieder fremde Pflegeeltern, die meinen Kleinen aufziehen. Ich habe mich zurückgezogen, hatte kaum noch soziale Kontakte. Manchmal bin ich einfach aus dem Bus gestiegen, wenn eine Mutter mit Kinderwagen einstieg. Ich habe es nicht ertragen, Kinder in Faruks Alter zu sehen.

 

Ursula K. — Mutter von Faruk (Fall 1): Ich wurde noch mal schwanger und zog vor der Geburt meines zweiten Sohnes nach Bremen. Ganz anders als in Vechta haben mir die Mitarbeiter des Jugendamtes hier geholfen. Sie haben mich ernst genommen und in ihre Pläne einbezogen. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Seit ein paar Monaten habe ich das alleinige Sorgerecht für Faruk zurück. Zu Jusuf habe ich keinen Kontakt mehr. Das ist vorbei. In den ersten Tagen, die Faruk bei mir war, fand ein Laternenfest in meinem Viertel statt. Ich habe den ganzen Umzug lang geweint, weil ich so glücklich war, beide Kinder an der Hand halten zu dürfen, nicht nur eins. Ich war einfach nur eine normale Mutter unter vielen. Ich konnte endlich all die Dinge nachholen, die ich immer mit Faruk machen wollte: ein Eis essen, in den Zoo gehen, ihn zum Kindergarten bringen, ihn trösten, wenn er weint.

Faruk ist ein aufgeweckter kleiner Kerl. Er hat sich in Bremen gut eingelebt. Aber das ganze Hin und Her hat Spuren bei ihm hinterlassen. Wenn er etwas nicht mitbekommt oder nicht versteht, was man zu ihm sagt, ist er schnell extrem verunsichert. Er hat sein Urvertrauen verloren. Ich denke, das hat auch etwas damit zu tun, dass er in seinem jungen Leben schon oft seine Bezugspersonen wechseln musste.

 

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